BCL-2-Inhibitor „Venetoclax“ im „Off-Label-Use“ auch bei der akuten myeloischen Leukämie (AML) anwendbar – Krankenkassen müssen Kosten übernehmen
Vor dem Sozialgericht Altenburg ( S 5 KR 1184/20) war die Rechtsfrage zu klären, inwieweit die BARMER Krankenkasse verpflichtet ist, die Kosten für die Verordnung des BCL-2-Inhibitors „Venetoclax“ in Kombination mit den HMA’s Azacitidin bzw. Decitabin für die Behandlung der (hier therapieassoziierten) akuten myeloischen Leukämie (AML) zu übernehmen. Die BARMER hat die vorherige Anfrage der Kostenübernahme der Verordnung von Venetoclax bei einer entsprechend erkrankten 75-jährigen Patientin – nach Erstellung von drei MDK-Gutachten – verneint, da der BCL-2- Inhibitor noch nicht für die Behandlung der AML zugelassen ist. Der behandelnde Onkologe konnte daher die Verordnung nicht vornehmen, da er andernfalls einem hohen fünfstelligen Honorarregress ausgesetzt gewesen wäre.
Obwohl der Einsatz von Venetoclax für die Therapie der chronischen lymphatischen Leukämie (CLL) in der Mono – und Kombinationstherapie in Europa zugelassen ist und beste Remissionsergebnisse aufweist, ist dessen grundsätzliche Verordnungsfähigkeit für die Behandlung der AML mangels entsprechender Zulassung in Europa noch nicht gegeben. Die amerikanische FDA hat Venetoclax dafür bereits im November 2018 im beschleunigten Verfahren zugelassen. Bei der europäischen EMA liegt seit Juni 2020 – nach positivem und erfolgreichem Abschluss mehrerer Studien, u.a. einer „Phase III – Studie“ – ein Zulassungsantrag vor, über den noch nicht entschieden wurde. In den Studien wird die erheblich bessere Wirksamkeit der Kombinationstherapie mit Venetoclax im Vergleich zur bisherigen Einzeltherapie mit HMA´s u.a. Alternativen bestätigt.
Die Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO) hat auf Grund der positiven Ergebnisse der Studien die Kombinationstherapie der AML mit Venetoclax im Rahmen eines „Hinweises“ in ihre Onkopedia – Leitlinien aufgenommen (Ziffer 6.1.1.3.). Darin wird darauf hingewiesen, dass in „jüngster Zeit durchgeführte Kombinationstherapien mit Azacitidin/Decitabin (HMA) plus Venetoclax bzw. LDAC plus Venetoclax bei Vorliegen bestimmter genetischer Mutationen (IDH1/2 – hier vorliegend!; FLT3-ITD) sehr ermutigende Ergebnisse in Bezug auf Ansprechrate und Lebensverlängerung zeigen und im Einzelfall ihr Einsatz erwogen werden könne“. Die Ablehnung der Kostenübernahme wurde daraus folgend umso weniger verständlich, zumal es bereits andere Krankenkassen gab, welche trotz fehlender Zulassung die Kosten der Verordnung in Einzelfällen übernahmen.
Mit dem Argument der Verordnungsfähigkeit im „Off-Label-Use“ und dem Vorliegen der dazu notwendigen Voraussetzungen haben die Unterzeichner im Oktober 2020 gegen den die Kostenübernahme ablehnenden Widerspruchsbescheid der BARMER Klage erhoben und einen Antrag auf einstweilige Anordnung gestellt.
Unabhängig von den Leistungsvoraussetzungen und Wirtschaftlichkeitsgrundsätzen des SGB V, den arzneimittelrechtlichen Einschränkungen oder einer Nutzenbewertung des G-BA nach § 35 SGB V hat das Bundessozialgericht erstmals mit Urteil vom 19.03.2002, Az.: B 1 KR 37/00, Bedingungen bzw. Voraussetzungen benannt (zuletzt: Urteil vom 03.07.2012, B 1 KR 25/11 R) bei deren Vorliegen die gesetzlichen Krankenkassen verpflichtet sind, die Kosten für eine Arzneimitteltherapie zu übernehmen, auch wenn das Arzneimittel nicht für das entsprechende Anwendungsgebiet zugelassen ist (sog. Off-Label.Use).
Ein Off-Label-Use kommt danach nur in Betracht, wenn es 1. um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, wenn 2. keine andere gleich wirksame (Alternativ-) Therapie verfügbar ist und wenn 3. aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann (vgl. z.B. BSGE 97, 112 = SozR 4-2500 § 31 Nr 5, RdNr 17 f – Ilomedin; BSG Urteil vom 8.11.2011 – B 1 KR 19/10 R – RdNr 17 mwN, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen). Abzustellen ist dabei auf die im jeweiligen Zeitpunkt der Behandlung vorliegenden Erkenntnisse (vgl BSGE 95, 132 RdNr 20 = SozR 4-2500 § 31 Nr 3 RdNr 27 mwN – Wobe-Mugos E; im Falle des Systemversagenss, BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 10 RdNr 24 mwN – Neuropsychologische Therapie).
Die nach diesen Grundsätzen erforderlichen Voraussetzungen waren hier erfüllt. Das Sozialgericht hat daher im Rahmen eines Verfahrenshinweises auf die tatsächliche und rechtliche Situation gegenüber der BARMER verwiesen, woraufhin diese, wohl zur Vermeidung einer für sie nachteiligen Präzedenz-Entscheidung, die Kostenübernahme anerkannte.
Da die Zulassung für das o.g. Arzneimittel zur Behandlung der AML schon wegen der Corona-Problematik wohl noch einige Zeit in Anspruch nehmen wird, empfehlen wir eine Verordnung in den genannten Fällen unter Berücksichtigung der o.g. Argumentation, weil davon auszugehen ist, dass wegen der Kosten der Behandlung mit Venetoclax regelmäßig noch solange eine Ablehnung der Kostenübernahme stattfinden wird, wie die Zulassung nicht offiziell erteilt worden ist.
Fachkanzlei für Medizinrecht
Torsten Jahnel LL.M.
Rechtsanwalt
Master of Laws Medical Law
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